neue wege – neue impulse
Ein Arzthaus mit Gemeinschaftsraum in zentraler Lage setzt Impulse zur Erhaltung eines vitalen Dorflebens und zur Weiterentwicklung eines vernakulären voralpinen Archetyps.
Arzthaus auf dem Land

Lage / Situation
Das Bauvorhaben liegt in Mitten einer traditionell-bäuerlich geprägten Dorfstruktur, circa 30km südlich von München, im Oberland. Lediglich 0,40km2 groß ist die bebaute morphologische Struktur, welche sich an dem Lauf eines der Isar zuläufigen Baches entlang entwickelt hat. Das Dorf trägt den Namen Ascholding und liegt idyllisch eingebettet im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Die Ortschaft hat hat mit seinen 787 Einwohnern noch ein intaktes soziales Gefüge welches durch Vereine, Gastronomie und Gewerbe gestärkt wird. Der demographische Wandel scheint Ascholding – rein statistisch betrachtet – nicht negativ zu tangieren. Eigentlich beste Voraussetzungen für eine vitale städtebauliche Struktur. Seit den letzten Jahren verändert sich jedoch etwas in Dörfern am Rand zur Metropolstadt München. Immer mehr Einwohner wählen aufgrund der verkehrsgünstigen Lage ihren Arbeitsplatz im nahegelegen wirtschaftsstarken München. Gleichzeitig „treiben“ die steigenden Mietpreise den Großteil der Einwohner Münchens in die umliegenden Orte, mit sich stetig besser entwickelnden infrastrukuturellen Verkehrsanbindungen an die Landeshauptstadt. Was folgt ist ein sukzessives Wegbrechen der Grundversorgung und die daraus resultierenden monofunktionalen Entwicklungen in Richtung „Schlafdorf“. Das für die Vitalität substanzielle Gleichgewicht von Wohnen, Arbeit, sozialem Leben und Erholung verschiebt sich auf dem Land zunehmend.
Bauaufgabe
Wunsch der Bauherrn war es, ein altes, heruntergekommenes „Backhäuschen“ inmitten seiner aufgegebenen Hofstelle durch einen Neubau zu ersetzen. In diesem Neubau sollte eine Arztpraxis für die Frau des Bauherrn Platz finden. Das Obergeschoss sollte einen Seminarraum beherbergen, welcher von örtlich ansässigen Vereinen und Bürgern angemietet werden kann.
Intention
Der Entschluss der Bauherrn, eine Dorfpraxis zu errichten, deckte sich mit dem ideellen Anspruch und Credo unseres Büros hinsichtlich nachhaltiger städtebaulicher Entwicklung und sozialer Nachhaltigkeit. Dem demographischen Wandel durch Angebote und Stärkung des sozialen Gefüges entgegenzuwirken und somit die Regionalität und Dezentralität zu fördern, ist unseres Erachtens nach ein großer Teil wahrer Nachhaltigkeit. Ziel der Bauherren war es, eine möglichst flexible Struktur zu bekommen, um auf gegebenenfalls eintretende Nutzungsveränderung möglichst kostengünstig und mit minimalstem Aufwand reagieren zu können, weswegen das Gebäude als umfunktionierbares Wohnhaus konzipiert wurde. Die Lage innerhalb der Hofstelle zu wählen, anstatt auf freie Parzellen im Süden oder Westen auszuweichen, war für uns von Beginn an der richtige Weg, um durch Dichte auch im ruralen Kontext ein Zeichen für zukünftige nachhaltige Dorfentwicklung zu setzen. Die Situierung des Gebäudes wirkt somit gezielt dem erhöhten Landverbrauch und der Zersiedelung gewachsener Strukturen entgegen, die oftmals durch partielle Ausweisung von Bauland an den Rändern von Dörfern ohne Masterplan und somit ohne nachhaltige Betrachtung infrastruktureller, sozialer beziehungsweise soziologischer Faktoren entsteht. Durch die Lage des gemeinschaftsdienlichen Gebäudes inmitten der idyllischen morpholgischen Struktur des alten Bachzeilendorfes soll die soziologische Struktur des Dorfes gestärkt und eine dörflich-zentralisierte nutzungsdurchmischte Innenentwicklung gefördert werden.
Entwurf
Intention des Entwurfes war es, eine neuinterpretative Hülle des alten, ehemaligen Backhauses an dessen Stelle zu schaffen. Die Lage inmitten der aufgelassenen Hofstelle und dem Wohnhaus des Bauherrn verlangte nach einer sensibilisierten Volumen- und Formfindung: Ein reduktiver Baukörper, in einer der Hofstellenhierarchie untergeordneten Stellung, mit Bezug zum öffentlichen Raum und zur voralpenländischen Baukultur bei ablesbarer, baukultureller Evolution. Die Eindeckung, die steile Neigung und die minimalen Überstände des ehemaligen Backhausdaches wurden übernommen. Die Form dieses vernakulären Bautyps, der Einsatz von Materialität und die Ausbildung von Bauteilen folgt einer jahrhundertalten handwerklichen Erkenntnis und Erfahrung über regionale klimatische Gegebenheiten und Materialressourcen. Das Gebäude soll als zeitgeistiger Baukörper mit der Allgemeinheit dienlicher Nutzung neues Leben in die ehemaligen Hofstelle bringen und gleichzeitig das soziale Gefüge des Dorfes stärken. Die Giebelseiten sollten möglichst geschlossen und in der Fläche unzerklüftet wirken. Deshalb sind an beiden Giebelseiten diagonal (unten und oben) Ganzglasecken in Stufenfalztechnik verbaut. Sie durchstoßen die massiven Ecken und verleihen dem Gebäude seine Dynamik. An der südlichen Giebelseite erfolgt die untere, erdgeschossige Zäsur mittels Gebäudeeinschnitt. Durch diesen volumetrischen Einschnitt wird der Straßenraum räumlich in das Gebäude eingebunden, um seine Nutzung mit den öffentlichen Flächen zu verknüpfen. Die ungewöhnlich nahe Situierung des ehemaligen Backhauses zur angrenzenden Verkehrsstraße wurde dabei übernommen um die gewohnte Straßenmorphologie zu erhalten und die dahinterliegende Hoffläche nicht weiter zu dezimieren.
Bauweise / Tragwerk
Die Gründung des Bauwerks erfolgt über eine Betonbodenplatte auf Glasschaumschotter. Durch die Verwendung des Recyclingproduktes aus aufgeschäumtem Altglas mit seiner geringen Einbautiefe, zusammen mit der Art der Fundamentierung wurden energieintensive Erdbewegungen auf ein Minimum reduziert. Der Glasschaumschotter übernimmt dabei die Aufgabe als dämm- und kapillarbrechende Schicht. Dadurch konnte auf den Abbau, die Anlieferung und den Einbau von Kies verzichtet werden. Die Abdichtung der Bodenplatte erfolgte auf rein zementärer Basis und garantiert somit die volle Recyclingfähigkeit des Bauteils. In nur zwei Tagen wurden die nach dem Elementplan vorgefertigten Brettsperrholzbauteile auf der Baustelle verbaut. Diese Bauweise verringerte die Belastung des Bauplatzes durch Lärm und Müll und ermöglichte einen raschen Baufortschritt. Die Tragkonstruktion aus vorfabrizierten unbehandelten Vollholz-Modulen bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten für einen nachhaltigen Rückbau. Die geschraubten Elemente (Wände, Decken, Dach) können leicht voneinander getrennt und anschließend wiederverwendet oder verwertet werden.
Energie und Ökologie
Das Konzept basiert auf einem individuell auf die örtlichen Gegebenheiten und Anforderungen angepassten Ansatz von Nachhaltigkeit. Das Projekt bildet ein möglichst enges, geschlossenes Kreislaufkonzept (ökologisch, sozial, ökonomisch) unter einer ganzheitlichen lebenszyklischen Betrachtungsweise ab. Dabei liegt der Schwerpunkt des Konzeptes ökologisch auf der Betrachtung der grauenergetischen Werte (Primärenergie), in sozialer Hinsicht auf der gesellschaftlich dienenden Funktion / Nutzung und ihrer Einbindung in den soziokulturellen Kontext sowie ökonomisch auf einer kosten- und amortisationsoptimierten Betrachtung für die Bauherrschaft. Durch den Verzicht auf ein Kellergeschoss und den konsequenten Einsatz ökologischer Materialien durch regionale Handwerksbetriebe wurde versucht ein Höchstmaß an grauer Energie einzusparen. Die Anbindung an die Hackschnitzelheizung der ehemaligen Hofstelle mittels Fernwärmeleitung wirkt sich zusätzlich positiv auf die primärenergetischen Werte des Projektes aus. Das Projekt soll ein Vorreiter für eine vernetzte, dezentrale Energieversorgung im ruralen Raum sein.
Belüftung
Das Gebäude liegt im Gebiet mit den besten Luftqualitätswerten der Bundesrepublik weswegen nichts gegen eine Fensterlüftung in Eigenverantwortung der Nutzer sprach. Die Einbindung natürlicher Prozesse wie dem „Kamineffekt“ zur Abfuhr von Feuchtigkeit und verbrauchter Luft durch die Dachflächenfenster ermöglichte den Verzicht auf eine wartungsintensive und grauenergetisch bilanzschwache Lüftungsanlage. Außerdem vermied dies initiale und laufende Kosten für die Bauherrn.
Alterungsfähigkeit und Lebenszyklus
Durch die konsequente Verwendung von langlebigen, qualitativ hochwertigen und sortenreinen Naturbaustoffen in allen Bauteilen, welche vielmals durch Überarbeitung eine Lebensdauerverlängerung erhalten können, beschränken sich die zu erwartenden Instandhaltungskosten auf ein Minimum. Im Innenraum können die Holzoberflächen sowie Sichtestrich- und Betonflächen einfach durch Abschleifen der verschlissenen Nutzschicht erneuert werden. Die Fassadenkonstruktion und deren Bauteile sind handwerklich simpel, fast archaisch gefügt und bei vielen Bauteilen ist ein Austausch bereits vorgesehen (Fenstereinrahmung/-bretter, Glastausch der Fenster). Durch die vielmals reversible Befestigung einzelner Komponenten wird ein Austausch erleichtert, die Kosten minimiert und die Lebensdauer des Gesamtgebäudes optimiert.
Fassade
Sämtliche der Witterung ausgesetzte Bauteile wurden so geplant, dass ein reibungsloser und einfacher Austausch jederzeit möglich ist. Die Fassade aus regionalem Holz ist sichtbar geschraubt und jederzeit demontierbar. Um eine möglichst hohe Recyclingfähigkeit zu erhalten wurde das Holz nicht mit herkömmlichen Anstrichen versehen. Der aus Skandinavien stammende, auf einem jahrhundertealten Rezept basierende Anstrich besteht zu 100 Prozent aus Naturbestandteilen und bedarf keinerlei Überholungsanstriche. Die Fassadenkonstruktion ist in Schichten gefügt., welche später „step by step“ rückgebaut werden können. Die Holzverschalung und dessen Unterkonstruktion lässt sich unbeschädigt lösen und weiterverwenden. Die Dämmplatten aus unbehandelten Holzfasern sind kompostierbar und lassen bei zerstörungsfreiem Rückbau eine Wiederverwendung zu.
Bodenbelag
Der Fußboden des Erdgeschosses und der Großteil des Obergeschosses wurde in Sichtestrich als Heizestrich ausgeführt. Der gewachste, zementäre und diffusionsoffene Boden ist prädestiniert für den Einsatz in höher frequentierten Bereichen und durchaus als ökologischer Naturboden anzusehen. Positiver Nebenaspekt ist ebenfalls die verringerte graue Energie dieses Bauteilquerschnittes durch Einsparung einer weiteren Deckschicht (Bodenbelag).
Fenster
Die Fenster sind von einem Schreinereibetrieb aus Vollholz gefertigt worden. Der Verzicht auf eine Holz-Alu- Variante erfolgte aus wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten. Zur Verlängerung der Lebenszeit der Holzfenster wurden alle Stöcke durch außenseitige Riegel an der Fassade verdeckt. Diese bilden gleichzeitig den Ersatz für energieintensives Blech zur Ableitung von Regenwasser und sind nach Ende ihres Lebenszyklus durch geringen Aufwand erneuerbar. Bei den Glasfassaden der Ost- und Westseite in Pfosten-Riegelkonstruktion wurde der Anteil an energieintensiven Komponenten so gering wie möglich gehalten. Die Pfosten und Riegel, sowie die Abdeckleisten sind aus Holz und sichtbar verschraubt. Lediglich das Klemmprofil zur Glasfixierung ist aus Aluminium gefertigt. Durch das reversible Konstruktionsprinzip können alle Komponenten (Holz, Alu, Glas) sortenrein und mit geringem Aufwand voneinander getrennt werden.
siehe Besonderheiten des Projektes
Privat
Das Gebäude wurde 2018 mit dem Sonderpreis für Baukultur der Metropolregion München ausgezeichnet
Beham Architekten
Einöd 7, 83623 Dietramszell
www.beham-architekten.de
t. 08027 413